Saturday, April 28, 2007

…wo er Mensch ist, …wo er spielt


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Rolf-Peter Wille

Dandy im Pariser Omnibus und vor der Gare Saint-Lazare. Ein trivialer Vorfall in 99 Stilvariationen. Die Inspiration für das originelle Experiment, schreibt Raymond Queneau, 1903-76, war Bachs Kunst der Fuge.

Eine enzyklopädische Sammlung rhetorischer Stilübungen - das ist eigentlich keine sehr moderne Idee. Die Redner des klassischen Altertums hatten bereits ihre pädagogischen Progymnasmata, rhetorische "Athletik"; und Erasmus, wohl der vielseitigste Rhetoriker der Renaissance, gibt zweimal 200 stylistische Variationen eines jeweils sehr banalen Satzes in seinen rhetorischen Übungen, De copia, 1512. Das Moderne an den Queneauschen Stilübungen, 1947, ist das Fehlen einer methodisch pädagogischen Absicht, die ironische Distanz und eine radikal unbekümmerte Spielsucht. Ein klassischer Redner benutzte rhetorische Figuren, um den Affekt zu kontrollieren und den Zuhörer politisch oder gerichtlich zu beeinflussen. Oder er stellte sein Sprachtalent und seine Gelehrsamkeit zur Schau. Der Eruditio huldigt sicher auch ein Queneau, aber dessen rhetorische Manipulationen erinnern eher an Experimente aus der Elementarphysik: Er lässt seine Partikel, die banale Geschichte und den sophistizierten Sprachstil, miteinander kollidieren und beobachtet kaltblütig das Kollisionsprodukt. Und wie mannigfaltig sind die Resultate! Witzig, energisch, unsinnig, verrückt, unglaublich langweilig, schlecht.

Queneaus größte Errungenschaft, die überraschende sprachliche Vielfalt, ist das Ergebnis einer einfachen, doch sehr radikalen Einsicht: Alles ist Sprache. Mathematik, Philosophie, Botanik, Zoologie, Musik, Medizin, werden von ihm als das benutzt, was sie in ihrem eigentlichen Wesen ja sind - Sprachen. Die Projektion von 99 rhetorischen Prototypen auf eine banale Geschichte variiert nicht nur den Charakter der Geschichte, zerstört die Illusion ihrer vermeintlichen Banalität, sondern wirft auch ein ironisches Licht auf die Prototypen selbst. Wenn der Vorfall im Omnibus zum Beispiel in einem philosophisch soziologischen Jargon erzählt wird, dann enthüllt sich dieser Jargon plötzlich vor unserem erstaunten Auge.

Manche Stilmittel, etwa die Ortographie und Phonetik betreffend, erscheinen als Parodie einer zu buchstäblichen Anwendung. Das Resultat ist chaotisch, sehr dadaistisch und erinnert an die sprachlichen Verrenkungen der Mozartschen Baesle Briefe oder auch an die "galumphierenden" Kofferworte in Lewis Carrolls Jabberwocky. Die dämonische Energie einer Ritualsprache. Eine dichterische Perfektion, wie man sie im Jabberwocky findet, fehlt jedoch leider bei Queneau. Peinlich wird es sogar bei klassischen Formen, wie dem Sonett. Mag sein, dass auch dieses Flickwerk als Parodie interpretiert werden kann, aber ein perfekter Sonett-Autobus wäre sicher ein interessanteres Fahrzeug. Wirklich künstlerischer Stil lässt sich nicht durch mechanistische Manipulationen erreichen. Doch poetische Perfektion ist natürlich nicht die Devise von experimentellen Übungen. Der magische Charme dieser Exercises de style ist ihr unbändiger Spieltrieb. Wir sind eingeladen mitzuspielen. "Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. " [Schiller]

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